Die Pianistin Sofja Güldabamova - Foto: Walter Windisch-Laube
Klavierkunst vielfältiger Beziehungen !
Sofja Gülbadamova bei Alsfeld Musik Art in der Albert-Schweitzer-Schule
Ein Klavierabend in der Aula, ja – doch ein ganz außergewöhnlicher, sehr besonderer: ein Konzept-Konzert aus Werken von einer Komponistin und fünf männlichen Kollegen, die allesamt in enger Beziehung zueinander standen. So eigenständig und gar eigenwillig die von Sofja Gülbadamova dargebotenen Werke sich auch präsentierten, so sehr konnten sie als miteinander verwoben erfahren werden, daraufhin ausgewählt und entsprechend erläutert. Selten ist dergleichen in einem Konzert zu erleben, zumal in solcher Klangsinnlichkeit und Intensität, mit einer derart fein-vielfältigen Anschlagskultur wie hier. Ein seltener Fall auch, dass ein pianistisches Rezital nicht mit Musik beginnt, sondern im Wort mit einer ebenso ausführlichen wie profunden Vorstellung der Werke und ihrer Urheber durch die Pianistin selbst, die sehr anschaulich und auch mit anekdotischen Einsprengseln das Beziehungsgefüge des Konzertes erläuterte, bevor sie sich an den Steinway-Flügel setzte. Ihre Ausführungen ergänzten sich aufs Schönste mit den Werkbetrachtungen im gedruckten Programmheft.
Johannes Brahms, Clara und Robert Schumann, Ernst von Dohnányi, Felix Mendelssohn Bartholdy und Ignaz Friedman standen auf dem Programm. Sie und ihre tonlichen Schöpfungen bildeten ein Beziehungs-Dreieck Düsseldorf – Leipzig – Wien, innerhalb dessen die Dreiecksbeziehung Robert – Clara – Johannes den Angelpunkt der Werkfolge ausmachte. Deren Akzente lagen nicht auf Virtuosität (die freilich in großer Mannigfaltigkeit und reichlichem Maße auch geboten wurde), vielmehr auf existentiellen Fragen, künstlerischer Interaktion, wechselseitigem Bespiegeln, Poesie und Klangsinn. Und die Weltbürgerin Sofja Gülbadamova, eine der profiliertesten Pianistinnen ihrer Generation der gut 40-jährigen, brennt dafür, eine Lanze für den zu Unrecht vergessenen ungarischen Komponisten Ernst von Dohnányi (1877-1961, Großvater der in Deutschland bekannten Brüder Klaus und Christoph von D.) zu brechen, der im Programm mit – einschließlich Zugabe – drei Werken vertreten war. Seine Musik stand im gänzlich romantischen Setting des jüngsten Musik-Art-Konzertes für das Hineinragen der Romantik-Epoche in die Moderne.
Das reguläre Programm endete mit einer Hommage an „Walzer-König“ Johann Strauß zu dessen 200. Geburtstag: einem furiosen ‚Fledermaus‘-Medley aus der Feder eben von Dohnányis. Das für Alsfelder Verhältnisse an diesem warmen Frühlingsabend leider nicht in gewohnt großer Zahl erschienene Publikum verabschiedete die sympathische, wortgewandte und pianistisch überragende Sofja Gülbadamova mit Standing Ovations und nahm außer vielen besonderen und erfüllenden Klangerfahrungen auch einiges Neue an kulturhistorischem Wissen mit.
Walter Windisch-Laube
Das hr - Ensemble (v.l.n.r.):
Stefano Succi und Grace Kyung Eun Lee (Violinen), Dashiel Nesbitt und Eleanora Kendra James (Violen)
sowie Valentin Scharff und Ulrich Horn (Violoncelli)
Foto: Walter Windisch-Laube
Ja, sie lieben Brahms !
Sinfonische Streicher-Kammermusik bei Alsfeld Musik Art
Ein Fest für die Vielen, die „Lieben Sie Brahms?“ mit einem nahezu uneingeschränkten „Ja“ beantworten können, bot die Reihe Alsfeld Musik Art bei ihrem 4. Saisonkonzert am vergangenen Sonntag. „Sinfonieorchester zu Gast in Alsfeld“, diese Zeitungsüberschrift der Konzertankündigung hatte zwar besetzungstechnisch ein wenig zu sehr in die Vollen gegriffen, da ja seit Privatisierung der Stadthalle das hr-Sinfonieorchester als Gesamt-Klangkörper nicht mehr nach Alsfeld kommen kann – diese eminente kulturelle Bildungs- und Ereignis-Chance wurde stadtpolitisch vermeintlichen wirtschaftlichen Vorteilen geopfert –, doch diesmal kam die kammermusikalische Besetzung einer sinfonisch-orchestralen auch in der Schul-Aula schon recht nahe: die Streichsextette op. 18 und op. 36 von Johannes Brahms standen auf dem Programm. Die Möglichkeit, solch stattlich und nicht-alltäglich besetzte Kammermusikwerke auf höchstem Niveau live im Konzert zu erleben, verdankt sich der Kooperation des Arbeitskreises Alsfeld Musik Art mit dem Hessischen Rundfunk und gleichermaßen der schieren Existenz eines öffentlich rechtlich getragenen Spitzenorchesters. Dass Stefano Succi und Grace Kyung Eun Lee (Violinen), Dashiel Nesbitt und Eleanora Kendra James (Violen) sowie Valentin Scharff und Ulrich Horn (Violoncelli) allesamt sowohl dem herausragend homogenen, transparenten und präzisen Gesamtklang des hessischen Top-Orchesters als auch solistischen Aufgaben verpflichtet und selbstredend bestens aufeinander eingespielt sind, bescherte der durchaus renommierten Alsfelder Konzertreihe einmal mehr einen Glücksfall und ihren Besuchern viele Glücksmomente. Einen entscheidenden Teil zum Gelingen des Ganzen beigetragen haben auch, beide mit vor Ort, Nicole Wunderlich vom hr-Team und Orchestermitglied Stefanie Pfaffenzeller, die derzeit kommissarisch für die Betreuung der hr-Kammerkonzerte verantwortlich ist.
Die unmittelbare Gegenüberstellung jener in Kombination abendfüllenden Brahms-Sextette ermöglichte eindrücklich die Hörerfahrung, wie ähnlich und zugleich wie unterschiedlich beide Werk-Geschwister sind, die nur wenige Jahre nacheinander das Licht der Konzertsäle erblickten. Beim ersten wurde dem Komponisten wohl selbst noch nicht ganz klar, ob das Ganze ein Einstieg in Streicher-Kammermusik herkömmlicher Art (Quartett zum Beispiel) oder zu einem sinfonischen Werk werden sollte. Beim zweiten Sextett, während bei Brahms der Gärungsprozess zur 1. Sinfonie bereits eingesetzt hatte, war seine Entscheidung gefallen: das Werk sollte Kammermusik in einer selten vertretenen Gattung sein, mit viel ‚durchbrochenem Satz‘, sprich: zwischen den Instrumenten aufgefächertem Klangbild, mit größtmöglicher Individualität der Stimmen sowie einem Höchstmaß an struktureller Vielfalt und klanglicher Neuheit. Kaum zu verhehlen ist indessen, dass ein höherer Saal mit weiter tragender und aufhellender Raumakustik die Charaktere beider Werke und ihre Spezifika gerade bei einer so brillanten Interpretation noch besser zur Geltung gebracht hätte.
Im ersten, dem B-Dur-Sextett, zeigt sich Brahms einem gewissen Traditionalismus verpflichtet: häufig wählt er die recht schlichte Satzart Melodie plus Begleitung, greift auf volkstümliche Wendungen und überlieferte Muster zurück, erstrebt oft eher einen sämigen Gesamtklang denn komplexe Satztechniken. Und doch lässt auch schon hier „the progressive“ (wie der äußerlich konservative Komponist später betitelt wurde) seine Pranken sehen; und dies vermittelt(e) sich bedeutend stärker in der Aufführungssituation – über die Bewegungen und Interaktionen der Ausführenden; so im Hauptteil des Scherzo-Satzes durch Überspielen der Taktgrenzen, des Metrums und des herkömmlichen periodischen Aufbaus. Sogar dass alle vier Sätze motivisch verknüpft, modern gesprochen: verlinkt sind, erschien durch Mimik und Gestik in dieser lebendigen Live-Aufführung veranschaulicht; die zyklische Verzahnung der Werkteile erfolgt übrigens just mittels jenes viertönigen Motives, an dessen Erscheinungsformen in der Musikgeschichte Leonard Bernstein über 100 Jahre später die „unendliche Vielfalt der Musik“ für sein Fernsehpublikum demonstrierte.
Wirtschaftlich betrachtet sind Sextette stets ein Unding gewesen: fürs häusliche oder auch musikschulische Musizieren zu groß besetzt und für ein orchestrales Konzentrieren zu klein bemessen, als dass Notenverlage für sie einen nennenswerten Absatzmarkt finden könnten. Die Dennoch-Existenz der Meisterwerke in dieser Sechser-Besetzung: von Brahms, von Dvo?ák, Tschaikowski, Schönberg, Reger, Strauss und vielen anderen vermag eindringlich und beispielhaft zu belegen, welch ein Kulturverlust der menschlichen Gemeinschaft und Gesellschaft durch durchgreifende Ökonomisierung immer neu drohen würde.
In seinem zweiten Sextett schließt Brahms, wie es die meisterliche Konzertdarbietung aufs Schönste beobachten und hören ließ, an einiges an, was er im ersten schon angelegt. So wird der Pizzicato-Kehraus des Debüt-Werks zum Anknüpfungspunkt für die eingewobenen gezupften Passagen im späteren, das Dialogische im Kopfsatz-Durchführungsteil von op. 18 zum Bezugsort für die satztechnische Auffächerung in op. 36, und das bereits im frühen auftretende Wechselnotenmotiv a-g-a wird fürs zweite Werk nachgerade konstitutiv: a-g-a-d-h-e ist Brahmsens tonliches Kryptogramm für den Namen seiner Göttinger Verlobten, die sohin nach der populären Agathe aus Webers ‚Freischütz‘-Oper zu einer weiteren bedeutsamen Agathe der musikalischen Werkgeschichte wird. Brahms leistete mit dieser Einarbeitung eines so genannten ‚Soggetto cavato‘, eines Namens-Motivs, eine Art kompositorischer Trauerarbeit – für die von ihm bewusst zugunsten des Künstlertums oder aus Furcht vor Beziehungs-Nähe gewählte Entsagung und Trennung.
Das war aber nicht der einzige Trauerflor, der bisweilen durch den Konzertraum, die Aula der Albert-Schweitzer-Schule, wehte. Denn genau hier hat Peter Zelienka, der bisherige Organisator der hr-Kammerkonzerte, 2023 noch selbst auf der Bühne gestanden. Vergangenen November ist er zwischen zwei Frankfurter Konzerten völlig unerwartet verstorben. Er war einer der profiliertesten und engagiertesten Musiker des hr-Orchesters und den Mitgliedern des Arbeitskreises Alsfeld Musik Art wie auch einigen der Konzertbesucher und -besucherinnen freundschaftlich verbunden.
Berückende Klanglichkeit, zuweilen bereits an Janá?ek im 20. Jahrhundert gemahnend, zwischen Flirren und komplexer Satztechnik, Ausloten der Dynamik und Artikulation in ihre Extreme, Changieren und Pulsieren, elegische Ruhe und Impulsivität: die Ausdruckstiefe und (brahmstypisch immer wieder „gedeckelte“) Emotionalität des späteren, reifen Sextettes, vermittelt sich nur, wie hier beispielhaft, aus der Genauigkeit der Detailarbeit und einer ebenso stupenden wie verinnerlichten instrumentalen Virtuosität, auf Basis eines äußerst wachen musikalischen und allgemein künstlerischen Bewusstseins, in einer wohlabgewogenen Balance zwischen Erfahrung und spontaner Spielfreude.
Dass hier alles auf Polarität und Ambivalenz angelegt ist, kann ein jeder spüren; ob man einen Liebes-Zwiespalt mit Schwanken und Wankelmut (im Wechselmotiv und den gegensätzlichen Tonart-Sphären sich zeigend), einem Sich-Losreißen-Wollen (an ‚Ausbrüchen’ kenntlich, wie sie etwa das Intermezzo des elegischen Adagio verkörpert), Eigensinn (im 9/8-Takt des Finalsatzes gespiegelt) und phasenweiser Rückkehr zur Gefühlsinnigkeit, ob man dies alles stets mitdenken und -empfinden sollte, bleibt jedem einzelnen selbst zu entscheiden. Brahms hat zwar beides angelegt, doch auch den Anspruch auf absolute, nicht programmbehaftete Musik immer neu geltend gemacht.
Die von den Musiker*innen gewählte Zugabe hätte angemessener nicht sein können, in ihrer Schlichtheit das überreiche Werk davor gut auffangend wie ergänzend – und überaus passend auf die zum Dank überreichten Rosen: nochmals Brahms in voller Besetzung, jenes sicherlich bekannteste aller seiner Werke, das Wiegenlied „Guten Abend, gut‘ Nacht, mit Rosen bedacht“. Und dabei dachten die Mitwirkenden, wie anschließend zu erfahren war, besonders intensiv an Peter Zelienka, des Textes wegen und der gemeinsamen Musiziererlebnisse gerade dieser instrumentalen Lied-Fassung mit ihm. Nachdenklich und erfüllt traten alle nach weiterem begeistert herzlichen Beifall in den sternklaren Abend hinaus.
Walter Windisch-Laube
Dem Publikum zum Greifen nah -
The Trevor Richards New Orleans Quartet
Foto: Walter Windisch - Laube
Traditionsreich und so lebendig wie eh
Fulminater New Orleans Jazz bei Alsfeld Musik Art
Sonntag zur besten Konzertzeit – zwei Legenden des traditionellen Jazz gaben sich in der Alsfelder Schillerstraße mit zwei Jüngeren Musikerkollegen ein mitreißendes Stelldichein: Klarinettist und Sänger Reimer von Essen, der jahrzehntelange Leiter der Barrelhouse Jazzband, mit ihr schon 1986 erstmals in Alsfeld zu Gast, und der im und um das Schwalmstädtchen wohlbekannte Schlagzeug-Matador Trevor Richards, der zusammen mit von Essen und Art Hodes im International Trio gleichfalls vor mehr als dreieinhalb Jahrzehnten bereits hier auf der Bühne stand, sie traten diesmal gemeinsam mit Matthias Seuffert (Klarinette, Bassklarinette, Altsaxofon) und Eberhard Hertin (am Piano) auf.
Der gebürtige Engländer Trevor Richards, in den USA einst Schüler und Freund von Louis Armstrongs Lieblings-Schlagzeuger Zutty Singleton, lebte lange Jahre abwechselnd in Europa (während des Sommers) und New Orleans (in den Wintermonaten), bis ihm 2005, ausgerechnet an seinem 60. Geburtstag, der verheerende Hurrikan „Katrina“ das Haus in der Südstaaten-Jazzmetropole samt Instrumenten und Jazz-Sammlung auf einen Schlag zerstörte. Zwei Jahre später siedelte er sich in der Alsfelder Region an, Schauplatz vieler seiner Konzerte zuvor, und brachte den Jazz buchstäblich ins Dorf. Unzählige Auftritte und kleine Festivals in Heimertshausen hatten fortan einerseits Volksfest-Qualitäten und zogen andererseits etliche Jazz-Stars ebenso wie ein überregionales Publikum in den Kirtorfer Ortsteil.
Die Aula der Albert-Schweitzer-Schule in Alsfeld quoll am Wochenende nun förmlich über, als das „Trevor Richards New Orleans Quartet“ seinen Auftritt hatte. Dessen zweieinhalbstündiges Programm bestand aus genau 15 Stücken einschließlich Zugaben – woraus leicht zu ersehen ist, dass man es nicht mit 3- oder 4-Minuten-Titeln zu tun hatte. Dabei wurde eindrucksvoll erlebbar, wie unmittelbar manch musikalische Urgesteine auch im hohen Alter zu begeistern vermögen: der mittlerweile 84-jährige Reimer von Essen durch seine ebenso virtuosen wie ‚sprechenden‘ Improvisationen – fast wie ein ‚junger Wilder‘ – und seine brillant phrasierten Klarinetten-Dialoge mit Matthias Seuffert; Trevor Richards, der dieses Jahr 80 wird, mit dem farbenreichen rhythmischen Fundament des Ganzen und seinen fein „abgeschmeckten“ Soli. Der mögliche Kalauer ‚Jeder Schlag ein Trevor‘ trifft insofern auch wieder voll daneben, als sich Richards just durch sein nachgerade melodiöses Schlagzeugspiel auszeichnet und abhebt.
Alle vier Musiker haben beeindruckende Vitae aufzuweisen, auch über den Bereich der Musik ziemlich weit hinausreichende; und manche ihrer Vorbilder oder musikalischen Leitfiguren belebten mit den Vieren zusammen im Geiste den Raum: Louis Armstrong und Sidney Bechet vor allem, aber auch Jelly Roll Morton sowie das Dreigestirn des Harlem-Stride-Piano (hier unmittelbar präsent mit Willie The Lion Smith). Von George Johnson über Morton und Smith spannte sich im ersten Konzertteil der Bogen bis zu George Gershwin, und schon die Poesie der Songtitel ist eine gedankliche Reise wert: „When You and I Were Young, Maggie“, „The Wolverins“ (‚Die Vielfraße‘, wie dann der Name von Bix Beiderbeckes Chicago-Jazz-Band), „Echoes of Spring“ – nicht zu verwechseln mit der ebenfalls schon in Alsfeld aufgetretenen Jazz-Formation „Echoes of Swing“ –, „Weary Blues“ – weder langsam oder müde noch ein Blues, daher in New Orleans kursierend unter „Shake it and break it and hang it on the wall“, oder nehmen wir noch: „I Surrender Dear“, welches von Trevor gern verballhornt wird zu „I Surrender a Deer“ oder gar „I Surrender a Beer“.
Das namentlich in Beifallsbekundungen bei klassischen Konzerten sehr disziplinierte Alsfelder Publikum sparte in diesem Konzert nicht mit Zwischenapplaus, etwa wenn ‚Youngster‘ Matthias Seuffert (54) sich behände und geradezu artistisch virtuos durch alle Klarinettenregister ‚switchte‘ oder die Bassklarinette von ihrer besten, ebenso einschmeichelnden wie expressiven klanglichen Seite zeigte, oder wenn ‚Ebi‘ Hertin lange perlende und glitzernde Soli einstreute. Im Auditorium tanzte die jüngste, gerade zweijährige Konzertbesucherin angeregt mit, und Christoph Kramer, vor über 35 Jahren Initiator der Alsfelder Jazzkonzerte, genoss aufmerksam den Auftritt seiner alten Freunde. Seit damals wurden, durch ihn und andere organisiert, viele weitere Jazz-Stilistiken in Alsfeld geboten, doch der traditionelle, der New-Orleans- sowie Dixieland-Jazz scheint besonders ins Herz der alten Fachwerkstadt und des oberhessischen Publikums zu treffen; stets wieder, so auch in diesem Fall, tragen dazu die humorige Atmosphäre auf und von der Bühne und die charmante Moderation bei; in Letzterer wechselten sich diesmal drei der Künstler aus zwei Generationen ab.
Kaum verwunderlich also, dass der Funke immer neu auf die Konzertbesucher übersprang; und natürlich gab es Standing Ovations, nachdem der letzte reguläre Titel, „Panama“ von William Tyers, abermals ein wohliges Gefühl ähnlich „O wie schön ist Panama“ vermittelt hatte. Die erste Zugabe, „Twelve Key Boogie“, in der Eberhard Hertin als Boogie-Pianist noch einmal zu großer Form auflief, führte tatsächlich durch alle Tonarten. Einzig der treff- und stilsichere Schlagzeuger konnte da freilich in Tönen nicht mitgehen; doch ‚entschädigte‘ er dafür mit einem letzten singend-swingenden Solo. So wurde dies Stück, das, wenn auch rasend flott, in seiner Steigerung ungefähr so abläuft wie ein bekanntes Kirchenlied, zum gemeinsamen „Danke für diesen schönen Abend“. Den Ausklang des fulminanten Konzerts und die Verabschiedung der Musiker bildete dann sehr passend Trevor Richards‘ und Reimer von Essens Signature Song „You Know What it Means to Miss New Orleans“. Und unausgesprochen schwebte in den Schlussapplaus und allgemeinen Aufbruch hinein jene legendäre Radio-Schlussformel des ‚alten Hessentag-Alsfelders‘ Bill Ramsey durch den Saal: „Keep Swinging!“
Walter Windisch-Laube
Die beiden Musiker Anna Kochergina und Raffi Geliboluoglo, während Moderatorin Susanne Schaeffer in Anlehnung an Chaplin mit Gehstock und Hut auf die Fotos des Künstlers eingeht (v.l.)
Foto: Walter Windisch - Laube
Der Musiker Chaplin
Alsfeld Musik Art startet ins Jahr mit anderer Seite eines berühmten Künstlers
Ein Chaplin-Konzert – ja, Sie haben richtig gelesen: Chaplin, nicht Chopin. Viele Cineasten, namentlich Stummfilm-Spezialisten, wissen es, was ansonsten wohl (noch) nicht allgemein bekannt ist: dass der geniale Komiker, Drehbuchautor, Schauspieler und Regisseur Charlie Chaplin auch Musiker war. Er spielte (linkshändig auf eigens umgebauten Instrumenten) Geige und Violoncello, nicht wenig ambitioniert offenbar, wenn wir sein überliefertes beachtliches Üb-Pensum betrachten. Und noch vor seiner großen Filmkarriere gründete der Engländer Chaplin in den USA einen Musikverlag, um die Eigenkomposition „Oh! That Cello“ und zwei weitere Stücke im Druck zu veröffentlichen. Die Noten-Edition erwies sich jedoch als Flop: von 2000 gedruckten Exemplaren wurden ganze drei verkauft. Desungeachtet entwarf Chaplin zeitlebens selbst die Musik zu seinen Filmen, zumeist mit eingängigen Melodien, die dann in romantischer Harmonisierung und zumeist im Broadway-Stil arrangiert wurden.
Eine Auswahl dieser Werke bot nun das zweite Konzert der laufenden Alsfeld-Musik-Art-Saison. Die nach Chaplins Vorgaben häufig elegant und elegisch, zuweilen auch burlesk, witzig und spritzig daherkommenden Stücke waren geschickt zusammengestellt und wurden gekonnt moderiert von Susanne Schaeffer, die bis vor rund zehn Jahren als Redakteurin die Kammerkonzerte des Hessischen Rundfunks in Alsfeld organisiert und betreut hatte. Cellist Raffi Geliboluoglu traf den Ton der Kompositionen genau, zwischen melancholisch eingetrübt und hymnisch ausgesungen. Als seine souverän und versiert agierende Klavierpartnerin war die junge Ukrainerin Anna Kochergina zu erleben.
Chaplins wohl prominentester und am häufigsten gecoverter Song fungierte als ‚Opener‘ und später auch als Zugabe: „Smile“ aus der Schluss-Sequenz des Filmes „Modern Times“; ihm folgten des ‚Komponisten-Verlegers‘ frühe Stücke für Cello und Klavier von 1916: „Peace Patrol“, „Oh! That Cello“ und „There is always one you can’t forget“. Recht große Bekannt- und Beliebtheit erlangten diese und andere aus Chaplins Feder vor Jahrzehnten, als der Cellist Thomas Beckmann und sein Duo-Partner Johannes Cernota unter eben dem Titel „Oh! That Cello“ 1985 eine Chaplin-Langspielplatte herausbrachten, die zu einem der in Deutschland meistverkauften Cello-Alben wurde.
Im Alsfelder Konzert nun haben sich einige weitere Chaplin-‚Ohrwürmer‘ wie „Bombay“ aus „The Gold Rush“ oder „Limelight“ mit weniger geläufigen Stücken abgewechselt. „This is my Song“ aus Chaplins einzigem (freilich erfolglosen) Farbfilm „A Countess from Hongkong“ (1967) wurde durch Petula Clark zum Hit. Einige der vorgetragenen Musiken, wie zum Beispiel „Texas Border“, warten mit Anklängen an die amerikanische Musiktradition – Ragtime, Hillbilly, Country – auf. In ihrer Machart ähneln einander allerdings die meisten Chaplinschen Stücke: eine im Vordergrund stehende Melodie, auf dem Cello zumeist in dessen hoher Klanglage vorgetragen, wird von mehr oder weniger opulenten Klavierklängen untermalt oder umrankt. Hier hätte sich in bloßer Aneinanderreihung der Piècen ein gewisser Ermüdungseffekt einstellen können, wären sie nicht mit Fotos illustriert und mit Worten zwischendurch erläutert worden, wie es die Konzeption im Falle der Alsfelder Veranstaltung überzeugend einlöste.
Auf den zweiten Blick offenbarte das Programm auch, wie oft und auf wie vielen Ebenen Kunst politisch werden oder wirken kann; angefangen damit, dass Charles Chaplin wegen einer gewissen ‚Vaterlandskritik‘ in den USA groteskerweise als Kommunist verfolgt war und deshalb in Europa Asyl suchen musste. Ein Schicksal, das zwei der drei Interpret*innen des Abends auf je eigene Weise mit ihm teilen: Raffi Geliboluoglu kann im Zusammenhang mit seinen armenischen Wurzeln nicht mehr in die Türkei reisen, und Anna Kochergina ist dabei, sich als Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen. Auch der Verweis auf Thomas Beckmann, den Wiederentdecker der Chaplinschen Cellomusik, ist hier nochmals am Platze, insofern er mit diesem und anderen Programmen das Projekt „Gemeinsam gegen Kälte. Benefizkonzerte für obdachlose Menschen“ ins Leben rief. Und der Alsfelder Konzertabend beleuchtete vor der Pause, wie auch Chaplin sich 1940 mit seinem ersten Tonfilm „Der große Diktator“ explizit politisch zu Wort gemeldet hat, einer Polit-Satire, anhand derer indessen trefflich disputiert werden kann, inwieweit humoristisch, noch dazu in Kombination mit einschmeichelnder Musik, den unermesslichen Verbrechen eines Adolf Hitler alias Adenoid Hynkel und Benito Mussolini alias Benzino Napaloni auch nur annähernd beizukommen ist. Gleichwohl, bei allem gebotenen Stoff zum Nachsinnen, wird der jüngste Musik-Art-Konzertabend als Perlenkette schöner Musik und bemerkenswerter Informationen noch lange in den Zuhörerinnen und Zuschauern nachklingen.
Walter Windisch-Laube
Das Minguet Quartett Foto: Monika Laube
Feine Streichquartett-Kunst auf höchstem Niveau
Das Minguet Quartett in der Konzertreihe Alsfeld Musik Art
Dass Alsfeld auf dem Tourneeplan eines Weltklasse-Streichquartetts steht, ist sehr bemerkenswert und zugleich bezeichnend: hat sich die hiesige Klassik- und Jazz-Konzertreihe „Alsfeld Musik Art“ doch schon oft als hervorragende Adresse bewährt, ausgehend von der guten Atmosphäre und Betreuung, vom aufmerksamen, konzentrierten und fachkundigen Publikum und auch vom Alststadt-Flair sowie der gepflegten Kultur-Geselligkeit.
„Alsfeld Musik Art“ ist dabei nicht nur (wie das Städtchen selbst in vielem auch) „klein, aber fein“, sondern durchaus rekordverdächtig: Eine rein ehrenamtlich organisierte Kulturreihe, die in ihre 36. Saison geht oder, anders betrachtet, weit über 200 Konzerte veranstaltet hat. Im planenden ‚Arbeitskreis‘ sind derzeit aktiv Annette Thon (federführend), Christoph Kramer, Dieter Müller, Michaela Stephan und Thomas Walter.
Das seit 36 Jahren bestehende und europaweit äußerst renommierte Minguet-Quartett ist nach 2017 nun bereits zum zweiten Mal Gast in Alsfeld gewesen, und die Alsfelder Musik-Feinschmecker-Szene zu Gast bei ihm, das seinen Namen nach dem spanischen Philosophen Pablo Minguet e Yrol trägt; er wirkte im spätbarocken 18. Jahrhundert und hatte es sich auf die Blätter und Fahnen geschrieben, breitere Kreise für die ‚Schönen Künste‘ sowie für musische Aktivitäten zu gewinnen. Die Besetzung des Ensembles war in drei von vier Stimmen die gleiche wie seinerzeit bei AMA: Ulrich Ilsfort und Annette Reisinger an 1. und 2. Violine, Matthias Diener am Violoncello; lediglich Viola-Spielerin Aida-Carmen Soanea war zum ersten Mal in Alsfeld. Das Programm des Auftritts am vergangenen Sonntag knüpfte an das vor genau sieben Jahren an, indem es mit dem zweiten von Wolfgang Amadé Mozarts so genannten Haydn-Quartetten begonnen wurde (damals hatte sein erstes das Konzert eröffnet). Mozarts Joseph Haydn gewidmete Quartette sind Zeugnisse eines freundschaftlich-kammermusikalischen Wettstreites zwischen dem jüngeren und dem älteren Protagonisten der „Wiener Klassik“. Mozarts zweites, in d-Moll, setzte diesmal die emotionale und expressive Marke für ein in fast jeder Minute faszinierendes Konzert. Der Komponist sublimiert und destilliert hier musikalisch die durchlebte Atmosphärik und Gefühlswelt einer realen Geburt, nämlich seines ersten Sohnes; durch die im Konzert zu erlebende hohe Kunst einer zugleich stilisierend-verallgemeinernden und klang- wie ausdrucksunmittelbaren, sprich präsenten Darbietung löste sich deren Intensität freilich ganz vom Entstehungshintergrund und wurde zu einer im umfassenden Sinne künstlerischen – mit Akzenten mehr auf reflexiver Klangausbreitung denn auf Dramatik.
Ganz andere Erlebnis-Sphären bot unmittelbar anschließend, in der pastoralen Paralleltonart F-Dur, Maurice Ravels einziges Streichquartett. Dies Werk vom Beginn des 20. Jahrhunderts bildete das Herzstück des Konzertabends, berückend schön und voll klanglicher Finesse. Hier zog das Spitzenquartett sein Alsfelder Publikum wohl am allermeisten in den Bann. Ravels „Quatuor à cordes en fa majeur“ wirkt(e) sehr ‚französisch‘ ob seinem Esprit und seiner Eleganz – und ist dabei rational durchgestaltet. So werden die jeweils nächsten Sätze bzw. Teile vor deren Eintritt charakterlich antizipiert, in satztechnisch gekonnter bis raffinierter Weise. Das ‚impressionistische Zentrum‘ bildet der langsame 3. Satz mit klanglichem Flimmern und tonlicher Entrückung, aber auch einem düsteren, an Mussorgsky gemahnenden Gegenpol. Der letzte Satz könnte als Ravels „Take Five“ namhaft gemacht werden, wegen der grundlegenden Verwendung des Fünfer-Metrums. Mit ihm verweht und verwirbelt, wie hier meisterlich dargeboten, das Werk in gesteigerter Motorik. Kaum zu glauben, dass es einst einen Skandal auslöste; der kam allerdings nicht direkt durch seine Musik zustande, sondern durch die Tatsache, dass es gleichsam beckmesserisch von der Teilnahme am Wettbewerb für den Rompreis ausgeschlossen wurde.
Das „Ohrwurm“-Reservoir des Publikums aufzufüllen vermochte nach der Pause Antonín Dvo?áks bekanntestes und meistgespieltes Streichquartett, sein hochromantisches ‚Amerikanisches Quartett‘ in F-Dur. Es hat diesen Beinamen bekommen, da es während Dvo?áks USA-Aufenthalt (von 1892 bis 1895) entstand und, vor allem in Melodik und Satzart, einige ‚indianische‘ Elemente erkennen lässt. Zugleich aber sind deren meiste auch gleichsam ‚böhmische Dörfer‘, will sagen: sie verbinden sich mit Traditionen des geradezu sprichwörtlichen Musikantentums aus Dvo?áks geografischer Heimat Böhmen. Ohne allzu offene Kühnheiten und Experimente oder Innovations-Ansprüche konzipiert, dafür bewusst eingängig, konfliktarm und naturnah geformt, ist ‚das Amerikanische‘ doch hörbar ein Meisterwerk; luzide, frei von Allüren und gänzlich ohne ‚Effekthascherei‘ oder gar großsprecherische Anwandlungen, sozusagen offene und ehrliche Musik. So ließ sich dieses Opus, zumal in der eher verhalten und auf Entfaltung denn reißerisch angelegten Interpretation durch das Minguet Quartett, angesichts aktueller nordamerikanischer Geschehnisse auch als musikalischer und zugleich politischer Kontrapunkt, als ein Statement gegen Überdrehtheit oder gar lauthals tönende Brandstifterei wahrnehmen und genießen.
Die vom begeisterten Auditorium erklatschte Zugabe des Minguet Quartetts führte abermals in eine gänzlich andere Klangsphäre: Gewiss erstmals in Alsfeld erklang der sehr kurze 15. und letzte Satz eines Werkes des mittlerweile 98jährigen György Kurtág, „Officium Breve“ op. 28, das er im Gedenken an seinen ungarischen Landsmann Endre Szervánszky (1911-1977) schrieb, einen Avantgarde-Komponisten und Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten. Dieser bedächtige Satz heißt „Arioso interrotto“ und bricht so plötzlich ab, dass einige im Publikum doch etwas irritiert schienen; was die Empfindung eines hochkarätig erfüllenden Konzerterlebnissen freilich nicht im Geringsten trüben konnte. Die Mitglieder des Quartetts machten sich nach dem Konzert alsbald auf nach Venedig, zu einem Auftritt am Tag danach.
Das nächste Konzert der Reihe findet am Samstag, dem 18. Januar 2025 um 20 Uhr statt und gilt unterm Titel „Oh! That Cello“ den musikalischen Werken von Charlie Chaplin, der zumeist auch sein eigener Filmkomponist war.
Walter Windisch-Laube