Das Helmut Lörscher Trio:
Matthias Daneck, Bernd Heitzler und Pianist Helmut Lörscher.
                                                                                                                           Foto: Walter Windisch-Laube

Großartiger Saison-Abschluss von Alsfeld Musik Art
Das Helmut Lörscher Trio mit Jazz als Kammermusik 

Ein an Spielfreude schwerlich zu übertreffender Konzertabend

ALSFELD (wwl). E oder U? E und U, EU?! Was wie eine politische Bekenntnisfrage klingt, ist hier eine musikalische. Es gibt seit über 100 Jahren die Unterteilung der Musikwelt in E- (wie ‚ernste‘) und U- (wie ‚Unterhaltungs‘-) Musik; wenn es noch eines Beweises für die Fragwürdigkeit dieser Schubladen bedurfte, so hat ihn das jüngste Musik-Art-Konzert erneut geliefert. Das Helmut Lörscher Trio bietet seit seiner Gründung 2001 ein einzigartiges Ineinander oder Widerspiel von komponierter und improvisierter, avancierter, barock oder klassisch-romantisch fundierter und Jazz-Musik, anders gesagt: diese Kunst entzieht sich der Festlegung auf ‚ernst‘ oder ‚unterhaltend‘, bewegt sie sich doch stets im Spannungsfeld von hoch komplex auf der einen und leichtfüßig, groovy, tänzerisch auf der andern Seite. Für seine „chamber jazz explorations“ hatte Pianist Helmut Lörscher, (inzwischen) emeritierter Professor für Schulpraktisches Klavierspiel an der Freiburger Musikhochschule, die gleichen hochkarätigen Musiker mit nach Alsfeld gebracht wie zu seinem letzten Auftritt bei Alsfeld Musik Art im November 2016: Bernd Heitzler am Kontrabass und Matthias Daneck am Schlagzeug.

Bereits die ersten drei Stücke des locker, humorig und instruktiv von Helmut Lörscher moderierten Abends erwiesen sich als höchst aufschlussreich für die grenzübergreifende Bandbreite ebenso wie für die geographischen und vor allem die musikalischen Wurzeln seines Jazz-Kammermusik-Trios: Der ‚Opener‘ „Silver City“ als Hommage an die Wahl-Heimatstadt Freiburg, ein Spiegel von Bergbau-Historie und kultureller Vielfalt der Dreisam-Großstadt, musikalisch angesiedelt zwischen Klangmalerei, treibender Rumba-Rhythmik, minimalistischer Motorik und impressionistischen Anmutungen.

Das zweite Stück im Programm (und zugleich auf der neuesten CD-Produktion des Trios) wurde zum besonderen ‚Hinhörer‘ für manche auch dadurch, dass seine Bachsche Vorlage bereits Anfang der 60er Jahre von Jacques Loussier verjazzt worden war: die zündende a-Moll-Invention. Einiges spricht ja dafür, im Trio um Helmut Lörscher die legitimen Nachfolger des legendären Jacques Loussier Trios zu sehen und zu hören, das seit 1959 mit „Play Bach“ zuerst Skandal und später Furore machte. Während Loussier aber in diesem Fall nach einer kurzen Introduktion die Vorlage von Johann Sebastian Bach fast original vorstellte und dann zur Improvisation darüber anhob, wird in der „sehr freien Jazzfantasie“ Lörschers das Urbild oder Formmotiv erst spät und nur in Ansätzen entschleiert. Auch an dritter Stelle im Konzertprogramm erklang die Adaption eines Bach-Satzes, den schon Loussier transformiert hatte. Hier ist die Nähe zu dessen Verfahrensweise bei Lörscher größer, doch wird ihr ein Latin-Aspekt hinzugefügt und die Jazz-Stilistik progressiv geschärft; insofern wirkt(e) dieser Take auch als Musik über Musik.

Vergleiche mit dem Jacques Loussier Trio werden indessen demjenigen Lörschers ebensowenig gerecht wie etwa das Etikett Klassik-Jazz-Crossover. Was hier im Wechselspiel Lörschers, Heitzlers und Danecks stattfindet, ist eine neuschöpferische Auseinandersetzung mit sage und schreibe 425 Jahren Musikgeschichte, in welcher zwar das Jazz-Idiom etwas wie den roten Faden stiftet, doch keine Grenzen steckt. So spannt sich der Bogen von Philipp Nicolais Kirchenlied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (1599), das zur Cantus-firmus-Choralbearbeitung wird, bis in fast „atonale“ Regionen der Zwölftonmusik; Letzteres nicht nur im ostinaten, eine Zwölftonreihe darstellenden Bass von Lörschers Eigenkomposition „Passacaglia“, sondern auch am Beginn der „Sonata à tre“, jener dreisätzig ausgewachsenen Triosonate, die das Zentrum des Abends und der jüngsten Lörscherschen Explorationen bildet. Zu großen Teilen auskomponiert, mit motivischer Arbeit wie in klassischen Sonaten-Werken und thematischer Verknüpfung der einzelnen Sätze, lässt das Werk doch auch Raum für vielgestaltige Improvisationen, in denen die solistische Klasse des Bassisten und des Drummers sowie das exzellente Aufeinander-Eingespielt- und Eingestimmtsein des Trios immer aufs Neue zu luziden Ergebnissen und Erlebnissen von polyphonem Linienspiel und kultivierter musikalischer Dialogkunst führt.

Eine Randbeobachtung wert war die Mimik der drei Spitzenmusiker im Konzert: Der Pianist schien die Töne oft sichtbar zu atmen, zu schmecken, einzusaugen oder mit Augen, Mund und Händen zu gebären, der Bassist zeigte mitunter eine Art Pokerface, während die Energie in die zugleich bestimmt und weich artikulierenden Finger floss, und der Mann am Schlagzeug war oft mit halb oder ganz geschlossenen Augen zu erleben, hörend dem Pulsieren und Gegenakzentuieren hingegeben.

Im weiteren Konzertverlauf erklang unter anderem, mit bewusstem Bezug auf das ‚Zweistromland‘ als Wiege unserer Kultur, Lörschers „Zwei Ströme“. In seinen einführenden Worten verwies er darauf, wie fruchtbar das Miteinander und Ineinander unterschiedlicher Kulturen ist, „wenn man das zulässt“. In dieser Komposition wurde dann übrigens ein Einfluss besonders greifbar, der das neue Konzept-Programm des Helmut Lörscher Trios, sein bisher wohl weitest gespanntes und avanciertestes, auch an anderen Stellen durchzog: derjenige seitens des US-amerikanischen Jazzmusikers und Komponisten Dave Brubeck.

Es folgte die bei Lörscher-Konzerten obligatorische Solo-Zugabe des grandiosen Improvisators Helmut Lörscher, auf Zuruf aus dem Publikum bekannte Themen im Stil eines ebenfalls von dort gewünschten Komponisten aufzubereiten. Diesmal waren es „Major Tom (völlig losgelöst)“ und „Summertime“ – im Stil von Chopin und John Lennon, was dem Pianisten auf Chopin-Basis unter Einbeziehung etlicher Gershwin- und Lennon-Zitate wie aus einem Guss, dabei allusions- und pointenreich gelang. Der Rezensent erlaubt sich hier freilich anzumerken, ob nicht eine Verwendung des ursprünglichen „Major Tom“ von David Bowie (Space Oddity, „Ground Control to Major Tom“) womöglich noch ergiebiger hätte sein können.

Sichtlich und dankbar genoss die Hörerschaft einen an Spielfreude, Virtuosität, Anspielungsreichtum und musikalischer Bandbreite schwerlich zu übertreffenden Konzertabend, der ein noch zahlreicheres Publikum unbedingt verdient hätte. Hier wirkte sich möglicherweise die zeitliche Parallelität zweier besonderer Musikveranstaltungen an einem Abend in Alsfeld aus, wie sie einmal nicht zu vermeiden gewesen, handelte es sich bei Lörschers Auftritt doch um die Nachholung eines letzten Herbst wegen Krankheit abgesagten. Gleichwohl: Zuspruch und Enthusiasmus des Auditoriums hätten sich selbst bei einem großstädtischen Jazzkonzert durchaus noch sehen lassen können. Das ist ein Verdienst auch des Nestors der Alsfelder Jazzkonzerte, Christoph Kramer, der, von Lörscher ausdrücklich dankend adressiert, aus gesundheitlichen Gründen am Konzert nicht teilnehmen konnte. In seinem Dank an das Publikum und die Organisatoren sagte Helmut Lörscher auch einen denkwürdigen und leider von politischer Seite viel zu wenig beherzigten Satz: „Kultur vor Ort ist, was das Leben lebenswert macht“.


Walter Windisch-Laube


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Elena Metelskaya (Klavier) und Martin Müller-Weiffenbach (Violoncello)
Foto: Jürgen-Udo Pfeiffer

Beeindruckende Darbietung bei Alsfeld Musik Art

Ehemaliger Alsfelder und seine Frau begeistern das Publikum mit Werken von Rachmaninow, Say und Barber

ALSFELD ().
 



Wolfgang Wels (Klavier) und Leo Jang (Bariton)
Foto: Walter Windisch-Laube

Von der Disparatheit der romantischen (und unserer) Welt

Eindrückliches Lied-Recital bei Alsfeld Musik Art

ALSFELD (wwl). Liederabende, Kunstlied-Darbietungen, haben Seltenheitswert, zumal in Alsfeld und dem Vogelsbergkreis. In der renommierten Kammermusikreihe Alsfeld Musik Art gibt es von Zeit zu Zeit, im Abstand einiger Jahre zumeist, solche sängerisch-pianistischen Solo-Auftritte, stets hochkarätig besetzt – unvergessen etwa der von Andrè Schuen. Jetzt war es wieder soweit; diesmal kamen die beiden Ausführenden aus dem mittelhessischen Raum: der Bariton Leo Jang und der Pianist Wolfgang Wels, beide seit langem am Stadttheater Gießen engagiert. Chul-Ho „Leo“ Jang stammt ursprünglich aus Korea, seine Verbindung nach Alsfeld ist die, dass er auch als Gesangslehrer an der Alsfelder Musikschule schon seit Jahren äußerst erfolgreich wirkt.

Das am Sonntag als Serenade in der Aula der Albert-Schweitzer-Schule gebotene Programm war ein durch und romantisches: Schumann, Mahler und Schubert standen an. Doch Romantik zum Träumen wurde da nur in ausgesuchten Einzelfällen serviert: im Fokus stattdessen die Zerbrechlichkeit des Weltgefüges und die Gebrochenheit des (dichterisch) handelnden Ich in ihm.

Klavierbegleiter und Vollblutmusiker Wolfgang Wels, der locker-humorvoll in die drei Konzertteile einführte, hatte am Sonntag bei Musik Art in große Fußstapfen zu treten: die von Gerold Huber und Daniel Heide aus früheren Alsfelder Lied-Recitals. Er bewegte sich indessen souverän darin, mit durchaus eigenwilligem Profil, das im Falle der „Dichterliebe“, Robert Schumanns beliebtem Zyklus auf Gedichte von Heinrich Heine, auch etwas polarisierte. Denn Wels interpretierte einige dieser teilweise miniaturhaften Gesänge an seinem Instrument nicht als schöne romantische Perlen, sondern, hie und da vielleicht etwas überzeichnet, als Zeugnisse innerer Zerrissenheit und versagter (Liebes-) Erfüllung. Dabei bekam der dialogisch kommentierende Klavierpart in Liedern wie „Wenn ich in deine Augen seh‘“, „Ich grolle nicht“, „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“ oder „Ich hab‘ im Traum geweinet“ eine ungewohnte Härte und Sperrigkeit zuweilen auch dort, wo Bitterkeit und Sarkasmus nicht unmittelbar aus Heines Gedichttext selbst, sondern (in der dichterischen Vorlage) aus dem Kontext, aus der Interaktion der Verse mit anderen Gedichten sprechen und erhellen.

Der Gesangssolist Leo Jang überwölbte die bisweilen schroffen, auf Pausen- und Kontrastwirkung setzenden Klavierklänge mit großen melodischen Bögen und stimmlichem Schmelz in baritonal heller Färbung. Dass Jang primär Opernsänger ist – mit Rollen wie dem Rigoletto oder dem Onegin in Repertoire und Bühnenpraxis – schimmerte bisweilen durch, doch nirgends im Sinne unangemessen übertriebener Theatralik. Leo Jang bestach vielmehr durch große stimmliche Bandbreite und tonlichen Facettenreichtum; besonders faszinierte seine vokale Klanggebung oft in leisen Passagen, in der Zurücknahme bei hohen Tönen, sowie in der Sonorität tiefer Lagen und Linien.

Mit Liedern für Singstimme und Orchester, später auch (und natürlich in diesem Konzert) mit Klavierbegleitung, hat Gustav Mahler an der Schwelle zur musikalischen Moderne die klangvollen Verse Friedrich Rückerts gleichsam geadelt. In wunderbarem Einverständnis von Stimme und Instrument gaben Leo Jang und sein Klavierpartner der Poesie und Melancholie, den Liebes-Hochgefühlen und der Welt-Entrücktheit dieser Vertonungen Ausdruck; besonders hervorzuheben in ihrem berückenden, ja bestrickenden Zauber die Gesänge „Liebst du um Schönheit“ und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“.

Den Abschluss der drei sonntäglich-konzertanten Perspektiven auf das romantische Kunstlied bildeten Beispiele aus dem nahezu unergründlichen Schaffen Franz Schuberts, mit dem bekannten Bekenntnis des 20-jährigen „An die Musik“ als regulärem Schlusspunkt. Mit Teil 3 kamen im Rückgriff auf die Früh- und Pionierzeit des Lied-Romantischen Singstimme und Klavierpart auf dem Alsfelder Podium zu einem harmonischen, wiewohl nicht spannungsarmen und manchmal überraschend modern anmutenden Ausgleich.

Als Zugabe bot das aus vielen gemeinsamen Auftritten gut eingespielte Duo Jang / Wels nach enthusiastischen Beifallsbekundungen jenes ebenso kunstvolle wie eingängige Lied „Der Lindenbaum“ aus Schuberts Wilhelm-Müller-Zyklus um die ‚Schöne Müllerin‘, das ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist und gerade deshalb immer neu seiner Rehabilitierung bedarf, seitdem Friedrich Silcher es mit seiner Männerchor-Version zum nostalgischen Idyll verzwergte. Mit dem Original aus der Feder des Schumann-Vorbildes Franz Schubert schloss sich in diesem beflügelnden Konzert der Kreis eines fast 100 Jahre umfassenden, kenntnis- und erkenntnisreichen Einblicks in den Lied-Kosmos der Romantik.

Walter Windisch-Laube



Die Musikerinnen und Musiker des hr-Sinfonieorchesters, von links nach rechts:
Sebastian Wittiber, Zoltán Kovács, Ulrich Horn, Anne-Sophie Bertrand, Dirk Nie-
                                                                        wöhner, Ayako Kasai, Akemi Mercer-Niewöhner     Foto: Walter Windisch-Laube

Orchester-Profis als grandiose Solisten

Intime und orchestrale Kammermusik von hr-Musikern bei Alsfeld Musik Art


ALSFELD (wwl). Mit einem Augenschmaus hat alles begonnen: Die prächtige, goldglänzende Konzertharfe von Ann-Sophie Bertrand, in der Bühnenmitte platziert, zog am späten Sonntagnachmittag bereits beim Eintritt in die Konzertsaal-Aula der Albert-Schweitzer-Schule zahlreiche Augenpaare auf sich. Im Halbkreis um sie herum gesellten sich dann zum Konzertbeginn eine Querflöte, eine Klarinette, zwei Violinen, eine Viola und ein Violoncello zu einer phänomenalen Eröffnung, die dem Augen- einen unvergleichlichen Ohrenschmaus an die Seite stellte: mit Claude Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ begann – chronologisch zudem – ein Konzert voller Symbolkraft, Klangsinnlichkeit und wechselnder bis schillernder Farbigkeit. Das 1894 entstandene Wiegenwerk des musikalischen Impressionismus auf das fast gleichnamige, literatur- und kulturgeschichtlich hoch bedeutsame Gedicht Stéphane Mallarmés ist als Orchesterwerk bekannt; doch in seiner kammermusikalischen Verdichtung trat dies ‚Prélude‘ dem dankbaren Auditorium im ausverkauften Saal mit gesteigerter Intensität, womöglich noch farbenreicher und eindringlicher entgegen. Solches gewiss auch aufgrund des großen Einverständnisses und der merklich guten, gelöst kollegialen Atmosphäre unter den Ausführenden; beides strahlte auf den Klangzauber und die Vitalität der Darbietung aus.
Zwischen zwei klangstarken, von allen gemeinsam aufgeführten Werken am Beginn und zum Schluss des Programmverlaufs traten die Mitwirkenden aus dem hr-Sinfonieorchester, zumeist ‚bekannte Gesichter‘ der Alsfelder Konzertreihe, in kleineren Besetzungen auf höchstem Niveau auch solistisch in Erscheinung: Sebastian Wittiber (Querflöte), Zoltán Kovács (Klarinette), Anne-Sophie Bertrand (Harfe), Akemi Mercer-Niewöhner (Violine), Ayako Kasai (Violine), Dirk Niewöhner (Viola) und Ulrich Horn (Violoncello).
„Pariser Harfen-Welten“ – manch eine/r mochte bei diesem Motto des Konzertes auch an Mozarts eingängiges Doppelkonzert für Flöte und Harfe gedacht haben, für das 1778 in Paris Adrien-Louis de Bonnières, duc de Guînes und seine Harfe spielende Tochter den Anlass gaben. Passagenweise eher in dessen, die erste Pariser Blüte-Zeit der Harfe (und noch weiter) zurückzuführen schien, obgleich 13 Jahre nach Debussys Faunen-‚Prélude‘ entstanden, die „Fantaisie“ op. 124 für Violine und Harfe von Camille Saint-Saëns, was jedoch aufgrund der Brillanz in der Ausführung (mit Akemi Mercer-Niewöhner auf der Violine) keineswegs störend ins Gewicht fiel: die geschmackvoll-virtuose Interpretation brachte die mannigfaltigen dialogischen bis rhapsodischen Momente des Werkes vielmehr aufs Schönste zur Geltung.
Die Verklammerung der ‚modernistischen‘ und der traditionalistischen Welten vermochten die beiden ‚Menuett‘-Sätze der sich anschließenden Werke von Ravel und Debussy zu leisten, mit Stilisierungen, Verschleierungen und ‚Rückholungen‘ ins Zeitgenössische, die den einstigen Hoftanz Menuett des Versailler ‚Sonnenkönigs‘ kaum mehr erahnen lassen und wie ihre jeweilige Sonaten-Umgebung sich gleichsam exterritorial zu Impressionismus und Neoklassizismus verhalten. Maurice Ravels kurz vor Saint-Saëns‘ Opus ebenso glänzend wie kunstreich komponierte Klavier-„Sonatine“ wurde in Carlos Salzedos Bearbeitung für Flöte, Cello und Harfe dargeboten, die teils ein wenig daran krankt, als Artefakt eines Harfen-Großmeisters die anderen zwei Instrumente etwas unterzubelichten; dem Werk als solchem und seiner Wirkung tat dies jedoch keinen Abbruch. Nach der Pause knüpfte daran die „Sonate“ für Flöte, Viola und Harfe von Claude Debussy aus dessen Spätzeit an.
Das Interesse an der stattlichen Konzertharfe mit ihren sieben Pedalen war im Publikum groß, mancherlei Fragen kamen auf, und so gab die sympathische Solo-Harfenistin Anne-Sophie Bertrand voll Esprit einige Erläuterungen zu ihrem Instrument, seiner Genese und seiner Blütezeit Anfang des 20. Jahrhunderts. Was zu ergänzen wäre: Um 1900 begann in Frankreichs Hauptstadt nicht nur eine Hoch-Zeit der Harfe, sondern auch eine der Querflöte, ablesbar an maßgeblichen Werken von Debussy und Ravel, ebenso aber von Gabriel Fauré, C. Saint-Saëns, Albert Roussel, Jacques Ibert, Cécile Chaminade oder Mélanie Bonis. Im Falle des Musik-Art-Konzertes korrespondierten beide Instrumente sogar im Goldton ihrer Korpusse.
Als künstlerisches Schwer-Gewicht das zweite Hauptwerk des Abends, eröffnete Claude Debussys „Sonate“ für Flöte, Viola und Harfe den Konzertteil nach der Pause. Fließende Übergänge zwischen Moll und Dur, Stimmungs-Fluktuationen, melodisch-harmonische Beleuchtungswechsel und Kühnheiten ebenso wie Reminiszenzen an barocke französische Vorbilder (Couperin, Rameau) überziehen dies Werk mit einer Art zeitlosem Schleier graziöser Melancholie. Pastorale Charaktere stiften dabei auch eine gehaltliche Brücke zum ersten Debussy-Werk der Programmfolge. Das alles wurde in der hochkarätigen Interpretation durchscheinend und spürbar.
Wie Debussys Sonate in Trio-Besetzung entstand auch Gabriel Faurés im Anschluss gebotenes Harfen-Solostück in der Zeit des 1. Weltkriegs. Es transformiert den Gang einer Schlossherrin durch ihre Gemächer in Klänge und Kaskaden zwischen Romantik und Impressionismus. Hier konnte die Solo-Harfenistin des hr-Sinfonieorchesters die Möglichkeiten ihres Instrumentes noch einmal furios vermitteln.
Wieder der Jahrhundertwende näherte sich die volle Interpret*innen-Besetzung abschließend erneut mit Maurice Ravel: dessen „Introduction et Allegro“ für Harfe, Flöte, Klarinette und Streichquartett, einem schwelgerischen, wie auf ‚Flügeln des Gesanges‘ nahezu orchestralen Werk der Kammermusik, das in großartig einmütiger, famoser Darbietung beinah rauschhaft in den Abend trug und fortwirkte.

Walter Windisch-Laube






 

 



                                 Foto: Walter Windisch-Laube

Start der 35. Saison von Alsfeld Musik Art

Überaus gelungene Premiere - Viktor Urvalov präsentiert Rachmaninow-Programm


ALSFELD (wwl). Das hat es in Alsfeld bisher nicht gegeben: ein Rachmaninow-Klavier-Recital. Geboten wurde es vom hier heimischen Pianisten Viktor Urvalov, der – um es vorweg zu sagen – sich geradezu prädestiniert erzeigte zum Rachmaninow-Interpreten. Nach zwei lyrischen „Warm-Ups“ aus Tschaikowskis ‚Jahreszeiten‘-Monatsuhr bekam das Spätnachmittags-Konzert zu Beginn der neuen Konzertreihe „Alsfeld Musik Art“ im 35. Jahr ihres Bestehens den Charakter eines umfassenden Komponisten-Porträts: zu Ehren jenes Musikers, in dessen Werk sich ein beachtlicher Teil Musikgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts spiegelt und dessen 150. Geburtstag dieses Jahr zu feiern ist. Doch zuvor – nicht ohne tieferen Grund, wie Urvalov selbst erläuterte – Pjotr Iljitsch Tschaikowski: dessen Juni-Barkarole (in betont kontemplativer Auffassung präsentiert) und „Schneeglöckchen“, eine Aufbruchs-Pièce, ließen nicht nur Rachmaninows Wurzeln aufscheinen, sondern gaben dem ausführenden 35-jährigen Künstler auch die Gelegenheit, seine lyrisch-romantischen Potentiale unter Beweis zu stellen. Es folgten in der klugen Programm-Dramaturgie drei der „Fantasiestücke“ op. 3 aus Rachmaninows Frühwerk, in deren Abfolge sich in nuce bereits die kompositorische Entwicklung vom lyrischen Romantiker hin zu einer herberen, geschärften und teilweise auch modernen Musiksprache ausdrückt sowie zugleich sein Versuch, zugunsten musikalischen Fortschreitens manch altrussischen Klang- und Melodiebildungen sich zuzuwenden, neu zu widmen. In den besten Momenten errichtet Rachmaninow dabei eine Brücke von Mussorgski zu Strawinsky. Gewisser Weise ist die Entwicklung des russischen Klavierkomponisten, wie sie der erste Konzertteil vorführte, gegenläufig zu der seines Interpreten bei Alsfeld Musik Art: Ersterer mit dem Ausbauen und häufig auch Herausstellen des virtuosen Moments, Letzterer, Urvalov, mit einer gegenüber den eigenen Anfängen als Klaviervirtuose zunehmenden Entfaltung und Ausdifferenzierung seiner emotionalen Gestaltungskraft und Ausdrucksfähigkeit.
Den Höhe- und zunächst Schlusspunkt des Programms bildeten die späten Variationen op. 42 über ein barockes Thema (vermeintlich) von Corelli, die auf originäre Weise kurzweilig sind, vor allem aber Rachmaninows kompositorische Palette wie einen Rückblick auf sein Lebenswerk ausbreiten, in ihren Wechseln von Stimmungs- und Ausdruckslagen durch Viktor Urvalov großartig in Szene gesetzt. Der dezidiert nicht-furiose Ausklang des Zyklus spricht gleichermaßen für den Urheber wie für den Interpreten: Hier geht es nicht um Effekte, sondern um Durchdringung und Sinn-Suche.
Das Publikum, trotz der Wahlen am gleichen Tag zahlreich erschienen, wurde für seinen großen Applaus mit zwei Rachmaninow-Zugaben belohnt. Die erste war jenes berühmte, zugleich düstere und klangsinnliche ‚Glocken-Prélude‘ cis-Moll op.3 No.2, mit dem Sergej Rachmaninows Weltruhm begann und mit dem sein Name für viele Menschen unlösbar oder unausweichlich verbunden ist. Viktor Urvalov widmete es ausdrücklich „allen Opfern der russischen Aggression in der Ukraine“, und auf diese Weise wurde das populäre Stück zu einem ergreifenden Bekenntnis; mehr als das: in ihm schien für Momente gleichsam Modest Mussorgskis Tonbild des ‚Großen Tors von Kiew‘ und ein Stück Utopie auf.