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Konzentriert und präzise: Thomas Walter dirigierte den Konzertchor und das Bläserquintett des hr-Sinfonieorchesters.
                                 Foto: Traudi Schlitt

Musikalisches und spirituelles Erlebnis

Abschlusskonzert der Saison 2022/2023 bei Alsfeld Musik Art


ALSFELD (gsi). Sie war gut gefüllt, die Alsfelder Walpurgiskirche, in die Alsfeld Musik Art am vergangenen Sonntag zum Abschlusskonzert der Saison 2022/2023 eingeladen hatte: Mehr als zweihundert Gäste freuten sich auf die konzertante Abendstunde.

Musik mit starkem kirchlichen Bezug stand hier auf dem Programm, durch das Chorleiter Thomas Walter führte. Der versierte Musiker und ausgebildete Gesangslehrer ist Mitorganisator der Konzertreihe und konnte für diesen Abend ein Bläserensemble aus den Reihen des hr-Sinfonieorchester gewinnen. Er freute sich sichtlich, neben den Sängerinnen und Sängern des Alsfelder Konzertchors auch Suyeon Lee (Flöte), Mireia Góngora Mora (Oboe), Lisa Wegmann (Klarinette), Marta Álvarez Álvarez (Fagott) und Michael Armbruster (Horn) auf der Bühne vor dem Altar begrüßen zu können.

Werke zweier sehr gegensätzlicher Komponisten des 19. Jahrhunderts hatte Walter für das Abschlusskonzert ausgewählt: Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) und Antonín Dvořák (1841-1904). Beide komponierten vor ihrem jeweiligen religiösen und sozialen Hintergrund: bildungsbürgerlicher Protestant der eine, in dörflicher Umgebung aufgewachsener Katholik der andere. Zusammengebracht in einem – wie die Musik – symmetrisch aufgebauten Programm, entfalteten sie große Wirkung, musikalisch und spirituell gleichermaßen.

Mit Mendelssohns vierstimmiger Motette „Zum Abendsegen“ startete das Programm vokal - ein wunderschöner Auftakt unter dem gotischen Himmel über dem Chorraum. Sacht, mit nur wenigen Stimmen zu Beginn, intonierten die Sängerinnen und Sänger die Bitte „Herr, sei gnädig unserem Flehen“. Präzise und konzentriert zeigte sich der Chor von Anfang an: Alle weiteren Stimmen reihten sich ein, bis vollstimmig das „und erfülle uns mit deinem Geist“ im Kirchenschiff erklang.

Obwohl ein Segen seinen Platz eigentlich erst am Ende einer Messe habe, habe er diesen für den Auftakt gewählt, so Walter in seiner kurzen Ansage: die Inhalte wiesen schon auf die der „Messe in D-Dur“ von Antonín Dvořák hin, deren erster Teil sodann von Chor und Quintett dargeboten wurde. Und nun hieß es lauschen und genießen. Das Zusammenspiel der professionellen Musiker mit dem Chor bestach durch Perfektion – eine bemerkenswerte Leistung aller Beteiligten, wenn man bedenkt, dass in dieser Konstellation nur einen Tag vorher mit den Proben begonnen wurde.

Dass beide – sowohl das Quintett des hr-Sinfonieorchesters als auch der Alsfelder Konzertchor – sich durch einen herausragenden Leistungsgrad auszeichnen, wurde einmal mehr durch dieses Konzert deutlich; beide Formationen ließen daran mit ihrer Darbietung keinerlei Zweifel. Ganz und gar gelang es ihnen, mit ihrem Gesang und den Instrumenten auch den geistlichen Charakter der Messe wiederzugeben und ihre Darbietung zu einem musikalischen spirituellen Erlebnis werden zu lassen. Auch die Wechsel von rein vokal und rein instrumental beeindruckten durch große Akkuratesse, wenngleich die Formationen besonders in den gemeinsam interpretierten Teilen der Messe brillierten und das Publikum gefangen nahmen.

Dem sehr getragenen Kyrie folgte ein großartiges Gloria – Stimmungsänderungen, die die Darbietenden mühelos ausgriffen und intonierten. Mit dem Credo, dem Glaubensbekenntnis, endete der erste Teil der Messe: feierlich, demütig, gewaltig. All diese Gefühle legen Musiker und Sänger in ihre Interpretation.

Mit viel Applaus entlud sich die erste Anspannung – sowohl bei den Künstlern als auch im Publikum, das sich danach auf eine weitere Motette von Felix Mendelssohn Bartholdy freuen konnte: „Warum toben die Heiden“, dargeboten allein vom Chor, der sich, um dem Publikum die Vierstimmigkeit dieses Stückes noch besser zu präsentieren, kurz umformatierte.

Mit dem „Divertimento B-Dur Hob. II:46“ von Joseph Haydn (1732-1809) hatte Thomas Walter für das Interludium in der Mitte des Programms Musik aus einem anderen Jahrhundert ausgewählt. Ein Stück, das, so der Chorleiter, seinem Namen nach der Abwechslung und Zerstreuung diente. Das Quintett zeigte hier allein sein Können und verschaffte dem Publikum in der Tat musikalische Erleichterung nach den sehr vereinnahmen Stücken des ersten Teils des Konzerts.

Wie Dr. Walter Windisch-Laube, Chormitglied und Musikwissenschaftler, in seinen Anmerkungen zum Programm (auch nachzulesen auf der Website www.alsfeldmusikart.de) ausführt, schuf die Übernahme des 2. Satzes aus diesem Divertimento durch Johannes Brahms eine Brücke zur Romantik, der die anderen Werke des Programms entstammen, und auch zum Aufführungsort Kirche.

„Jauchzet dem Herrn“ hieß es in einer weiteren Motette von Mendelssohn, die dem zweiten Teil von Dvořáks Messe voranging. Alle Freude und alle Demut, aller Dank lagen in dem Gesang des Konzertchors – Stimmungen und deren Wechsel, die wie Thomas Walter in seiner Moderation beschrieb, auch die Messe prägten und sowohl für Chor als auch Quintett Herausforderungen böten, die alle großartig bewältigt hätten. So waren auch die drei Abschnitte des zweiten Teils der Messe – Sanctus, Benedictus und Angus Dei – noch einmal Zeugnis für die Präzision und Konzentration, mit der die Darbietenden zu Werke gingen.

Besonders jedoch auch für die Freude, die ihnen anzumerken war. Diese Freude nahmen sie mit in die Zugabe, die das Publikum einforderte und die – vom Chorleiter eingeplant – das Programm symmetrisch abrundete.

Mit „Verleih uns Frieden gnädiglich“ brachten die beiden Ensembles eine weitere Motette von Felix Mendelssohn Bartholdy zu Gehör und entließen ein beglücktes, spirituell und musikalisch bereichertes Publikum in den Sonntagabend.

Alsfeld Musik Art geht weiter: Die Saison 2023/2024 beginnt am 8. Oktober mit einem Konzert von Viktor Urvalov. Das zweite Konzert der Reihe ist geplant für den 11. November. Dann spielt das Helmut Lörschner Trio.

 

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MusikerInnen des hr-Sinfonieorchsters bei Alsfeld Musik Art
                                 Fotos: Dr. Walter Windisch-Laube

Musikalische Entdeckung

Ensemble des Hessischen Rundfunks brilliert bei Alsfeld Musik Art


Bis vor 16 Jahren waren Spitzenmusiker und -musikerinnen aus dem hr-Sinfonieorchester regelmäßig, alle zwei Jahre nämlich, auch mit großer Orchesterbesetzung in Alsfeld zu Gast. Die seinerzeit spürbar besseren Alsfelder Rahmenbedingungen einer ‚Kultur für Alle‘ bescherten vielen Alsfelderinnen und Alsfeldern ungeahnte sinfonische Konzerterlebnisse, bis, ja bis die Stadthalle für dergleichen nicht mehr zur Verfügung stand. Dem organisatorischen Zusammenwirken zwischen Hessischem Rundfunks und dem ehrenamtlichen Arbeitskreis Alsfeld Musik Art ist es zu danken, dass Frankfurter Orchestermitglieder auch weiterhin nach Alsfeld kommen, und sie tun es angesichts der freundlichen Atmosphäre vor, in und nach den Konzerten immer wieder mit großer Freude.

Diesmal waren es vier Frauen um den beim Hessischen Rundfunk für die Kooperation mitverantwortlichen Peter Zelienka, der als Violaspieler selbst auch auf der Bühne stand; mit ihm konzertierten Rachelle Hunt und Shoko Magara di Nonno, Violinen, Angela Park, Violoncello, und Nami Ejiri, Klavier. Im Gepäck hatten sie zwei kammermusikalische „Schwergewichte“ aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert: das Klaviertrio von Peter Tschaikowski und das Klavierquintett des hierzulande noch weitgehend unbekannten russischen Komponisten Nikolai Medtner.

Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Klaviertrio a-Moll ist eins der ausgedehntesten und virtuosesten, auch eigenwilligsten Werke seiner Gattung; mit einiger Dominanz des fulminanten Klavierparts. Tschaikowski, einer der hörbar westlich geprägten unter den russischen Komponisten des 19. Jahrhunderts, hat mit diesem ein programmatisches Werk geschaffen, in dem er ganz Persönliches mit wesentlichen Stil-, Form- und Klangcharakteristika seiner Tonsprache vereint; dazu gehört die Orientierung der Kompositionsweise an westeuropäischer, vor allem deutscher musikalischer Romantik bei gleichzeitiger Pflege und Einarbeitung russischer Wurzeln.

Die ausgefeilte Interpretation durch Rachelle Hunt, Angela Park und Nami Ejiri brachte die Vielfalt der Ausdruckslagen und Kompositionstechniken auf ebenso „funkensprühende“ wie einfühlsame Weise zur Geltung. Beide Streicherinnen zeigten bei aller Kraft des Zugriffs viel Sinn fürs Verklingenlassen, und der weit geöffnete Flügel ermöglichte einerseits zauberhafte klavieristische Klangwirkungen und ein Verschmelzen zarter Streicher- mit silbrigen Klavierklängen, sodann kraftvoll-pathetische Klangentfaltung auf der anderen Seite des Ausdrucksspektrums. Allerdings kam der Steinway der Albert-Schweitzer-Schul-Aula in dieser Kammermusik-Besetzung auch einige Male vernehmbar an seine Grenzen: Obschon Pianistin Nami Ejiri an keiner Stelle zu laut spielte, machte sich die allzu direkte und harte Klangabstrahlung des Instrumentes mitunter etwas störend bemerkbar.

Hatte Tschaikowski in seiner 4. Sinfonie das bekannte russische Volkslied vom Birkenbäumchen dem bedrohlichen „Fatum“ entgegengesetzt, so bietet er mit der Hauptmelodie des Trios etwas wie die Quintessenz musikalischen Volksgutes seiner Heimat auf, und dies mit Blick auf den verstorbenen Freund, Kollegen und Förderer Nikolai Rubinstein, dem das Klaviertrio als musikalischer Epitaph gewidmet ist. Tschaikowskis kammermusikalische Großtat endet dementsprechend im Trauermarsch-Duktus, mit dem das russische Leit-Thema unterlegt wird. Dies veranlasste die Musikerinnen, die ursprünglich geplante Werkreihenfolge umzustellen, um das Konzert mit dem Finale des zweiten Werkes freudiger und hoffnungsfroher zu beschließen, wie Rachelle Hunt zu Beginn des Auftritts am späten Sonntagnachmittag erläuterte.

Noch bis vor kurzem sogar für die Mitwirkenden eine Entdeckung, wurde der andere Programmpunkt fürs Publikum zu einem ganz besonderen, neuartigen Konzerterlebnis: das Klavierquintett von Nikolai Medtner, einem 1880 geborenen russischen Komponisten mit deutschen sowie skandinavischen Vorfahren und einem internationalen Werdegang, seinerseits eng mit Sergej Rachmaninow befreundet.

Medtner selbst sah dies wohl bedeutsamste Kammermusikwerk aus seiner Feder, das ihn durch Jahrzehnte begleitet hat, als klingendes Resümee des eigenen Lebens. Bei aller „Unzeitgemäßheit“ für ein Mitte des 20. Jahrhunderts vollendetes Werk, zeigt es sich doch von fast allen kompositorischen Entwicklungen seit Ende der Spätromantik gleichsam informiert, in einer unverwechselbaren und sehr eigenen Stilistik: changierend zwischen der Übertragung Wagnerscher Flächigkeit und Brucknerscher Block- oder Register-Klangstrukturen ins Kammermusikalische, impressionistischen Farbfeldern, modernistischen Passagen und neuklassischen oder sogar Jugendstil-Anmutungen.

Ursprünglich dem Grundriss des Podiums und der Kommunikation des Quintetts geschuldet, wurden bei Medtners Stück Violinen und Viola im Stehen gespielt, was der Homogenität und Transparenz des kompakten Klangbildes erstaunlich zugutekam. Die fünf Ausführenden brillierten mit geradezu sinfonischer Wirkung in bestmöglicher Abgestimmtheit. Darbietung und Engagement der gleichermaßen hochkarätigen wie sympathischen Ausführenden wurde mit begeistertem, nachhaltigem Applaus quittiert.



Maya Wichert (Violine) mit Yomiko Urabe (Klavier) bei Alsfeld Musik Art
                                 Foto: Dr. Walter Windisch-Laube

Romantischer Bogen

Maya Wichert und Yumiko Urabe musizieren in generationsübergreifendem Einverständnis

Im Alter von 13 Jahren bekam sie 2019 den 1. Preis beim ‚Internationalen Louis Spohr Wettbewerb für junge Geiger‘: 16-jährig ist sie bereits mit stilistisch breit gefächertem Repertoire auf Tournee: Maya Wichert aus München, nicht einer Musikerfamilie entstammend und doch musikalisch ebenso hochbegabt wie hoch motiviert, hörbar zu reif in ihrem künstlerischen Vermögen, um Wunderkind-Klischees zu entsprechen.

In Alsfeld, in der neu erwachten Konzertreihe Alsfeld Musik Art, war Maya Wichert als nicht allein hochvirtuose und blitzsauber intonierende, sondern vor allem gestaltende Künstlerin zu erleben, mit schon herausragend ausgeprägtem Vermögen, ihre Tongebung von schlank bis sämig unterschiedlichsten Werk-Stilistiken und Ausdruckslagen anzuverwandeln – auf einer altitalienischen Violine, die das jederzeit mitträgt: Als Stipendiatin der Deutschen Stiftung Musikleben spielt Maya Wichert eine Geige des neapolitanischen Meisters Nicolo Gagliano aus dem 18. Jahrhundert.

Mayas Partnerin am Flügel war Yumiko Urabe, Kammermusikerin, Korrepetitorin und Hochschuldozentin aus München sowie seit 12 Jahren ‚Offizielle Pianistin‘ der Kronberg Academy, Alsfeldern noch in bester Erinnerung als hochgradig erfahrene und flexible Klavierkünstlerin von ihrem Auftreten bei Musik Art im April 2014.

In bester Abstimmung und großem, generationenübergreifendem Einverständnis spannten beide Musikerinnen einen weiten Bogen von den Grundlagen des Musikalisch-Romantischen bis zu dessen Ausläufern, sprich: von Beethoven bis Szymanowski und Rachmaninow. Die Dramaturgie des Konzertabends bot ein zweifaches Crescendo, jeweils hin zu Leidenschaft und Virtuosität, diese freilich in je völlig unterschiedlicher Weise und Werkgestalt.

Yumiko Urabe und Maya Wichert huben an mit Beethovens erster Sonate aus Opus 30, der mittleren von drei A-Dur-Violinsonaten des Bonn-Wiener Meisters, einem Werk ausgefeilter Dialogstrukturen aus seiner mittleren Schaffenszeit, Markstein zu gänzlich eigener Stilfindung. Mit geschmackvoll gestaltetem Vibrato und in wunderbarer Zwiesprache von Streich- und Tasteninstrument wurde das Werk durchscheinend als zugleich ein in der Wiener Klassik fußendes und eines des Aufbruchs im und in jenes 19. Jahrhundert, das letztlich zum romantischen wurde. Einige Passus hätten bei diesem Beethoven vielleicht noch mehr Mut zu fahlen und zu scharfen Klangwirkungen vertragen.

Die Stilpluralität der 6. (und letzten) Solosonate von Eugène Ysaÿe zwischen Bach, Paganini, Spätromantik, Impressionismus und Roma-/„Tzigane“-Momenten (Ravels gleichnamiges Werk stammt aus dem gleichen Jahr 1924) zur Ganzheit zu führen und aus ihr heraus in spannungsreicher Schwebe zu halten, ist eine bewundernswürdige Leistung. Maya Wichert gelang sie mithilfe ihres geigerischen Modulations-Spektrums scheinbar fast mühelos.

Im Bereich der großangelegten spätromantischen Violinsonaten ließe sich, auf Mitteleuropa bezogen, von zwei Dreigestirnen sprechen: das eine bildet die Werk-Trias von Johannes Brahms, das andere bilden je eine Sonate von Fauré, César Franck und Richard Strauss, durchaus mit einigen Schnittmengen in Diktion und Stilcharakteristika. Die erste Violinsonate von Gabriel Fauré ist der bei weitem früheste dieser letzteren Leuchtpunkte, ein schwelgerisch-furioses Werk, in dem Maya Wichert und Yumiko Urabe sich mit brillanter Technik und eindrücklicher Expressivität, von kontemplativer Versunkenheit bis zu ausladender Gestik reichend, als Duo großartig bewähren konnten.

Kaum seine Wirkung verfehlen kann, souverän wie hier dargeboten, Karol Szymanowskis „Nocturne und Tarantella“ von 1915, ein zündendes Satzpaar, das seinerseits einen Bogen spannt von düster-grüblerischen Anfangsklängen, beinah ‚das Fürchten zu lehren‘, bis zur wirbelnden Stretta.

Der begeisterte Applaus wurde mit einer passend ausgewählten Zugabe belohnt: Sergej Rachmaninows instrumental gesungener „Vocalise“ op. 34 No. 14, die gleichfalls im Ersten Weltkrieg, 1915 entstanden war – von den beiden Künstlerinnen recht zügig angegangen und zuletzt umso nachdenklicher das Auditorium nach einem beeindruckenden Konzerterlebnis in den Abend entsendend. 


(v.l.) Johannes Marmen, Laia Valentin Braun, Sinéad O’Halloran, Bryony Gibson-Cornish
                                 Foto: Dr. Walter Windisch-Laube

Fulminante Verkörperung unterschiedlichster musikalischer Charaktere

Streichquartettabend mit dem Londoner Marmen Quartet

Einmal mehr bescherte Alsfeld Musik Art den hiesigen, aber auch auswärtigen Kulturinteressierten in der Aula der Albert-Schweitzer-Schule ein Konzerterlebnis, wie es intensiver, nachdrücklicher und für bleibendes Erinnern geeigneter nicht hätte sein können. Zu Gast war das in England ansässige Marmen Quartet, bestehend aus Johannes Marmen und Laia Valentin Braun (Violinen), Bryony Gibson-Cornish (Viola) und Sinéad O’Halloran (Violoncello), eine vielfach preisgekrönte Kammermusik-Formation mit einem Altersdurchschnitt  seiner Mitglieder von unter 30 Jahren.

Bei ihrem Alsfelder und, wie zu erfahren war, ersten Konzert des Jahres 2023, brachte das Quartett in einem klug zusammengestellten Programm ein Jugendwerk Mozarts mit einem Alterswerk Leoš Janáčeks und einem Opus aus Beethovens mittlerer Schaffensphase zusammen. Von der ersten Sekunde ihres Auftritts an bestachen die Musiker und (an Bratsche und Cello) Musikerinnen durch ihre ungemein lebendige und produktive Kommunikation, die sich nicht zuletzt in ihrem Bewegungs- und Minenspiel anschaulich mitteilte. Mit hörbarer und sichtlicher Musizierfreude offenbarten die fantasiereichen Vier in Mozarts frühem B-Dur-Quartett, wie sehr das Salzburger Genie auch im Instrumentalbereich als Bühnen-, Theaterkünstler schrieb, und das bereits als 17jähriger. Die Akteure verstanden es meisterlich, unterschiedlichste musikalische Charaktere auf dem Podium nachgerade zu verkörpern, ohne dass Dichte und Einheitlichkeit des Klangbilds auch nur ansatzweise darunter gelitten hätten.

In einem gesetzteren, traditionalistischen Sinne „very british“ konnte es bei ihrem Spiel schon deshalb nicht zugehen, weil das Marmen Quartet zwar eine englische Gründung, jedoch international zusammengesetzt ist: eine Schwede, ein Schweizer, eine Neuseeländerin und eine Irin konzertieren seit Londoner Studienzeiten gemeinsam – und tun das in unvergleichlicher Weise: so vital wie homogen, gleichermaßen intim wie (im allerbesten Sinne) dramatisch. Nur zwei der vier spielten übrigens nach Noten, die andern von Tablets. 

Selbst der Frankfurter Musiksoziologe und -philosoph Theodor W. Adorno, der einen sehr skeptischen Blick auf fast alle Komponisten des 20. Jahrhunderts außer Mahler und Schönberg pflegte, fand für Leoš Janáček mehr denn anerkennende Worte: indem er seine Kunst als „exterritorial, aber in ihrer Konsequenz großartig“ bezeichnet hat. Der aus Mähren stammende Janáček hat parallel zu den deutlich jüngeren „Klassikern der Moderne“ Schönberg, Bartók, Webern, Berg, Hindemith und Orff eine gänzlich eigenständige, höchst progressive und zugleich äußerst ausdrucksstarke, eine exzeptionelle Tonsprache erfunden.

Janáčeks zweites Streichquartett, „Intime Briefe“, spiegelt als Werk eines 73jährigen die Komplexität einer (seiner eigenen) außerehelich-generationen-übergreifenden, emotional eindringlichen Zweierbeziehung. In extremen Klanglagen und experimenteller Tongebung scheint hier (mehr als ein halbes Jahrhundert früher) bisweilen die Streicher-Metal-Welt von „Apocalyptica“ vorweggenommen. 

Wie sehr häufig bei Beethovens Musik ist auch das Werk Leoš Janáčeks und insbesondere  das hier aufgelegte reich an dialogischen Strukturen, jedoch auf ganz andere Weise: Die klanglichen Zwiegespräche schließen bei aller Sprachgeprägtheit viel sozusagen ‚Nonverbales‘ ein und bieten, von traditioneller Melodik und Harmonik oft gleichsam abstrahierend, viel ‚reine‘, unmittelbar erscheinende Expressivität. Geradezu folkloristisch beginnt und endet der vierte, letzte Satz des Janáček-Quartetts, doch das quasi Volksmusikalische wird hier weithin verfremdet, konterkariert und transformiert.

Der dritte Höhepunkt des Konzerts war nach der Pause Ludwig van Beethovens 2. (nach dem Widmungsträger benanntes) Rasumowsky-Quartett. Seine mitunter eher ruppige, oft insistierende musikalische Konversation wurde in diesem Fall mit vielfach sparsamem, immer ausdrucksbezogen genau dosiertem Vibrato äußerst kontrastreich zu klanglichem Leben gebracht. Zum zweiten, langsamen Satz soll Beethoven von der Harmonie der Sphären inspiriert worden sein, und das Marmen Quartet vermochte ihm ähnliche „himmlische Längen“ zu entlocken, wie sie Schumann einst der Musik Franz Schuberts attestiert hatte; dies, allen Beethovenschen Schroffheiten zum Trotz, auch an vielen anderen Stellen des häufig ruhelos und vorwärtsdrängend wirkenden Quartett-Werkes. Und das im 3. Satz ein- und durchgeführte ‚russische Thema‘, die Keimzelle aller vier Sätze, wurde nicht nur im Programmheft, sondern gestisch-‚gesprächsweise‘ auch auf der Bühne anschaulich. Den erneut mit Scherzo-Elementen gespickten Finalsatz machten die Ausnahme-Musiker gewissermaßen für seine Mendelssohnschen Züge und damit in ihrer musikgeschichtlichen Vorreiter-Funktion transparent.

Begeisterter Applaus quittierte auch diese Interpretation. Mit der Zugabe, Mozarts Andante cantabile aus dessen Streichquartett KV 465 von 1785, dem so genannten „Dissonanzen-Quartett“, schloss sich der Kreis des Konzertes und öffnete sich dabei zugleich – wie mit Blick zu einem an Sternschnuppen reichen Himmel. Verwundern würde es nicht allein den Rezensenten, sondern viele der Konzertbesucher, wenn vom Marmen Quartet künftig nicht noch viel zu lesen und zu hören wäre.



(v.l.) Jan Luley, Monique Thomas, Paul G. Ulrich, Thimo Niesterok, Gerd Breuer                                                                          Foto: Dr. Walter Windisch-Laube

Jazz vom Feinsten bei Alsfeld Musik Art

Jan Luley und Band präsentieren „New Orleans“ in größter Bandbreite

Vor 17 Jahren war New Orleans durch den Hurrikan Katrina in Wasser und Schlamm versunken. Längst ist es wieder aufgebaut, wiewohl leider auch zuungunsten sozial Schwächerer – katastrophenbedingtes Beispiel für Gentrifizierung. Doch New Orleans, die ‚Wiege des Jazz‘, bleibt ein faszinierender Ort. Das war nur einer der Eindrücke nebenbei, die das grandiose Jazzkonzert vermittelte, welches am Wochenende die 32. Saison der Konzertreihe „Alsfeld Musik Art“ eröffnete, nach zweieinhalb Jahren coronabedingter Pause. Passender und ermutigender hätte der Wiedereinstieg nicht sein können. Als Akteure des Abends belebten „Luley’s Lagniappes“ sowie Monique Thomas und Thimo Niesterok die Bühne.

Mit einem Stück des in New Orleans aufgewachsenen Jelly Roll Morton, der sich einst selbst als ‚Erfinder des Jazz‘ bezeichnet hat, eröffnete Jan Luley solistisch das Konzert. Tatsächlich: Im gleichen Jahr, in dem Scott Joplins berühmt gewordener Ragtime „The Entertainer“ erschien, glitt der egozentrische Morton bereits vom Rag in Regionen herüber, die man später als Jazz definieren sollte. Der Pianist vermittelte dies eindrücklich und improvisatorisch originell. Von hier aus spannte Luleys Band der ‚Werbegeschenke‘ und ‚Give-aways‘ (Lagniappes eben) den Bogen bis hin zu den zwei wunderbaren gemeinsamen Zugabe-Stücken: „Amazing Grace“ und „Do you know what it means to miss New Orleans“.

Das begeisterte Auditorium erlebte fünf Musiker-Persönlichkeiten von internationalem Rang mit ihrer je charakteristischen, individuellen Art – bis hin zu ganz unterschiedlicher Auftritts-Kleidung.

Dass sie immer wieder gern nach Alsfeld kämen, sagten jene der Bühnenkünstler, die bereits hier waren, schon vor dem Auftritt; die andern stimmten nach dem Konzert, nach ihrem Erleben des Alsfelder Publikums und der ebenso ungezwungenen wie verbindlichen Betreuung gern mit ein.

Von verschiedenen früheren Auftritten her in Alsfeld ein ‚alter Bekannter‘: Jan Luley, Tausendsassa des Jazz- und Blues-Pianospiels: pfeifend, singend, moderierend und vor allem mit größter Virtuosität und stilistischer Vielfalt in die Tasten greifend, nahm die Zuschauer und Zuhörerinnen, erfreulich viele an der Zahl, mit sich nach New Orleans: hier im übertragenen Sinne in dessen kreolische Musikkultur, doch organisiert und führt Luley auch tatsächliche Reisen ins reale N. O.

Monique Thomas, gebürtig aus Philadelphia, ‚gelernte‘ Gospelsängerin und in New York zu einer großen Jazz-Stimme gereift, konnte mit phänomenaler stimmlicher Bandbreite hinreißen und immer neu auch verblüffen. Einer der szenischen Höhepunkte des mit zahlreichen kleinen Bühnen-Interaktionen gespickten Programms war eine ‚Battle‘ „gegen“ ihrem Bandkollegen Thimo, in der Monique sich allein mit der Stimme alle Schattierungen des Trompetenklangs ‚konkurrierend‘ zu eigen machte.

Der junge Trompeter Thimo Niesterok, von gänzlich anderer äußerer Statur als Louis Armstrong, knüpft in seiner farbenreichen Spielweise an den Altmeister der ‚klassischen‘ Jazztrompete an und führt dessen Tongebung in viele Richtungen klanglich weiter. Ausgebildet an der Kölner Musikhochschule (Hochburg eigentlich des modernen, experimentellen Jazz), verfügt Niesterok schon in jungen Jahren über einen breiten, an und mit europäischen Jazz-Größen geschulten Erfahrungsschatz.

Paul G. Ulrich, langjähriger Band-Mitstreiter Jan Luleys, war einst fester Bassist bei Altmeister Paul Kuhn. Wenn er den Bogen ergreift und den Bass beinah akrobatisch und intonatorisch souverän bis in höchste Töne als Streichinstrument erklingen lässt, schafft er auf seinem voluminösen Instrument bisweilen die Anmutung einer Stroh- oder Trichtergeige.

Fürs rhythmische Fundament der Solisten-Band sorgte Gerd Breuer als Virtuose im Hintergrund. Seine Diskographie als Sideman umfasst nicht weniger als 75 Schallplatten und CDs.

Die profilierte Fünfer-Crew ließ, mal wie eine Brise, dann wieder fast wie ein Orkan, etliche bekannte und einige weniger geläufige Jazz-Klassiker durch den Abend wehen, ließ Armstrong, Ellington, Ray Charles, Mahalia Jackson und manch andere in der Aula der Albert-Schweitzer-Schule aufscheinen, alle Stücke in ganz eigener Weise auf- und zubereitet, angereichert mit Jazz-Elementen, die über New Orleans und den gleichnamigen Ur-Jazz-Stil beachtlich hinausführen – zu einem bedeutsamen Abend des so genannten traditionellen Jazz …